
Vor kurzem hatte ich das erste Mal, seit ich hier im Norden lebe, einen Hörsturz. Eigentlich eigenartig, wie man in einer so entspannten Umgebung ein Symptom entwickeln kann, das mit Stress, Überdruck und notwendiger Auszeit in Zusammenhang gebracht wird.
Nach einer Woche habe ich mein vollständiges Gehör noch nicht wiedererlangt und das macht vor allem dem Musiker in mir große Angst. Werde ich jemals wieder vollständig hören können? Werde ich taub wie Beethoven mit einem Hörrohr vor meinem Klavier stehen? Oder mir irgendwann vor lauter Unerträglichkeit des Seins mein Ohr abschneiden wie van Gogh?
Doch dieser Hörsturz hat mich auch tief in meine Innenwelt katapultiert. Wenn das Ohr nach außen hin verschlossen ist, bleibt nur das Hören nach innen ... und es ist faszinierend, was man da drinnen so alles findet. Einsichten, Wünsche, Gefühle, Ängste. Man begegnet dem ganzen inneren Menschen, den man sich selbst geschaffen hat durch seine Entscheidungen und Glaubenssätze, die teilweise bis in die Kindheit zurückreichen.
20 Din-A4-Seiten später finde ich so manche Perle im tiefen Ozean des Unbewussten. Interessanterweise verändert jeder Schatz, den ich dort hebe, auch mein Hören oder mein eigenes Verhältnis zum Hören.
Warum teile ich diese persönliche Geschichte? Was hat das mit Achtsamkeit zu tun? Und wer bis hierher gelesen hat, fragt sich wahrscheinlich vor allem auch: "Was hat das mit mir zu tun?"
Durch das Hinhören der letzten Tage und durch das Schreiben vernehme ich endlich wieder meine eigene innere Stimme, die schon viel zu lange verstummt war.
Heute saß ich das erste mal wieder am Klavier und spielte Etude No.4, Op.10 von Frederic Chopin in einer Geschwindigkeit, die so langsam war, dass ich mit meinem Gehör jedem einzelnen Ton folgen konnte. Doch was ich dabei empfand, war kein Friede, keine innere Ruhe, kein Genuss durch die Langsamkeit dieses sonst so turbulenten Klavierstücks. Im Gegenteil. Mein ganzer Körper verspannte sich und meine innere Stimme schrie mich von meinem Klavier aus an: "Spiel schneller ... SCHNELLER ... das ist doch Zeitverschwendung, was du hier machst ... Du musst doch vorwärts kommen ... Dir läuft die Zeit davon!" Da war er also, dieser Druck, der mit dem wundervollen Norden nichts zu tun hat. Ich spürte das erste Mal bewusst, was wahrscheinlich die meisten Menschen kennen: "Jetzt ist es schon wieder Abend und nichts geschafft." "Ich habe das Gefühl, mein Leben rast an mir vorbei." "Schon wieder ein Jahr vergangen, derweil kommt es mir so vor, als wäre erst gestern mein Geburtstag gewesen."
Wir leben in einer Zeit, in der eine immer steigende Anzahl Menschen damit beschäftigt ist, MEHR zu erreichen, MEHR zu schaffen, MEHR zu haben, MEHR zu entdecken. Die Selbstoptimierer und Coaches erzählen uns an jeder Ecke, wie einfach es ist in 100 Tagen reich zu werden, mit Online Marketing ein Millionenbusiness aufzubauen und die Digitalisierung als einzigen Wachstumstreiber anzuerkennen. Wer da nicht aufspringt, ist abgehängt. Wie in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Wir bürden uns eine immer neue Informationsflut auf, wollen immer noch mehr lesen, noch mehr entdecken, noch mehr lernen. Doch dabei vergisst man oft seinen eigenen Rhythmus. Ganz auf sich zurückgeworfen zu sein, hat mich wieder zur Erkenntnis gebracht, dass es etwas gibt, was jenseits dieses ganzen "MEHR" steht. Qualität. Zeitqualität.
Und während ich so an meinem Klavier saß und ganz langsam meine Etude spielte und während mich diese innere Stimme vom Klavier herab weiter anbrüllte, wurde es plötzlich ganz still in mir und um mich herum... und eine tiefe Freude über die Schönheit eines jeden Klangs und die tiefe Ehrfurcht vor den Kompositionen Chopins stiegen in mir auf. Und für einen Moment hatte ich das Gefühl, sein Geist würde hinter mir stehen und mir zuhören. Ein wundervoller Moment.
Jedes Symptom, jede Gefühlsregung, jede Auseinandersetzung und jeder Wutausbruch kann uns ein großes Geschenk sein. Wenn wir bereit sind, darauf hinzuhören, was die tiefe Botschaft unseres Leidens ist. Eine Sichtweise, die vielleicht in dieser heutigen Zeit wichtiger ist als je zuvor.
Hast du selbst Überdrucksymptome? Bluthochdruck? Tinnitus? Hörsturz? Nackenverspannung? "Rücken"? Kopfschmerzen?
Gibt es etwas, was du in deinem Leben so langsam und achtsam tun kannst, wie du es sonst nie tun würdest? Und wenn es nur das Spülen des Geschirrs oder das Aufhängen frisch duftender Wäsche ist. Was empfindest du dabei? Was steigt in dir auf?
Wenn du lernen möchtest, dich zu entspannen und deinen eigenen Weg zu innerer Stille zu finden, schreibe mir gerne eine Nachricht.